ADHS hat viele Gesichter …

Dopamin Express & Special Effects

Heute mal Off-Topic. Auf süß nehme ich an der Blogparade von Birgit Oppermann teil. Wie der Titel eindrucksvoll vermittelt, geht es gar nicht um Krebs, sondern das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, aka ADHS. Eine neuronale „Anomalie“ oder “Dysfunktion” oder so. Ich persönlich präferiere ja Begrifflichkeiten mit weniger Krankheitswert. Immerhin habe ich schon eine Krankheit. ADHS ist aber für sich genommen auch erstmal nur Abweichung vom Standard. Vermehrte Transponder im Gehirn, die Dopamin schneller aus dem synaptischen Spalt befördern, was die Signalübertragung beeinflusst. Das ist alles. 

Und das bringt btw auch wirklich spannende Funktionalitäten zu Tage. Will heißen, mit meinem “ADHS-Besonderlich” im Kopf bin ich in bestimmten Sachen echt gut. Kreativität, Out-of-the-Box-Denken, Zusammenhänge erkennen und Lösungen finden … ich habe also Fähigkeiten, wie jeder andere Mensch – ob Seltenheitswert sind sie oft auch noch ganz besonders gefragt. So weit so gut. 

Der Haken

Systempassung und gesellschaftliche Standard-Skills gehören leider nicht dazu, weswegen man gerne bereits versagt, bevor die Special-Effects überhaupt zünden. Ach und noch etwas vorweg: Unser Ego bekommt nicht zu wenig Aufmerksamkeit, wir können UNSERE Aufmerksamkeit nicht gut halten, schweifen ab, verlieren den Fokus, synaptischer Spalt und so. Das ist etwas völlig anderes. Just saying.

Die Basics hätten wir also.

Es gibt noch viel mehr vorurteilsbespielende Hard-Facts, die es allesamt Wert sind, aufzugreifen, weil sie wichtig sind, Verstehen und damit Verständnis schaffen und weil sie zumindest jene Teil-Varianz im gesellschaftlichen Miteinander reduzieren, uns folglich näher zusammenbringen. Viele so richtig fundierte Impulse dazu findet ihr auf den Seiten von Birgit Oppermann. Mein Artikel informiert gewohnt wenig. Ihr wisst ja, hier herrscht kein hoher Anspruch. Einmal mehr geht es mir nur darum, Erfahrung erfahrbar zu machen. Dabei möchte ich euch an einigen Aspekten der ungeschönten Wahrheit teilhaben lassen. 

Zur generellen Einordnung sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass ergänzend zu meinem ADHS mittlerweile auch Autismus im Raum steht. Volle Neurodivergenz-Breitseite also. Jetzt aber los.

Mein erstes Gesicht: Die Fratze

Exkurs in meine Kindheit: Ich war ein zauberhaftes Baby. Süß, hübsch, brav und gerade so speckig, dass ich sehr früh sitzen konnte, ohne sitzen zu können. Eine Woge der Begeisterung und ganzer Stolz meiner Eltern bis, – ja bis ich in die sogenannte Trotzphase übertrat und – nicht mehr herausfand. Ich blieb einfach drin, begab mich tiefer und tiefer in Irrwälder zwischenmenschlicher Hässlichkeiten. 

Regelmäßig kam es zu Tobsuchtsanfällen, in denen ich mich, wüste Beschimpfungen brüllend, auf den Boden warf, den Kopf gegen die Wand schepperte, nicht zu bändigen war. Meist wurde kurz zuvor irgendetwas von mir verlangt, Müll rausbringen, Hausaufgaben, durchaus zumutbare Klassiker eben, doch aus Gründen sah ich mich nicht imstande und/ oder in der Verantwortung, das Aufgetragene zu tun und – 3,2,1 Desaster loading. So plötzlich wie die unbändige Welle der Wut über mich hereinbrach, ebbte sie ab. Nicht ohne eine Schneise der Verwüstung zu hinterlassen. Ich beendete meinen Angriff, weinte und entschuldigte mich, versuchte die acht Wochen Hausarrest auf null herunterzuhandeln, doch vor allem mit aller Kraft, Harmonie einzufordern.

Der Teufel und die abgerissenen Köpfe

Aufgewachsen bin ich bei Mama und Oma. Beide wahnsinnig wichtig für mich. Beide schon damals krank und vom Leben gezeichnet. Je älter ich wurde, desto heftiger randalierten meine Aussetzer. Desto mehr zeichneten sie Spuren in die betroffenen Seelen, desto mehr hatten diese wiederum damit zu tun, wieder zur Normalität zurückzukehren. Ich schämte mich, wollte alles ungeschehen machen, alles wieder auf Anfang setzen. Zu sehen, wie sehr ich meine Mutter immer wieder verletzte, war kaum auszuhalten und doch tat ich es jedes Mal aufs Neue. 

Sie selbst war groß genug, mir nichts nachzutragen. Sprach in den ruhigen Momenten ausgiebig mit mir, um erlösende Veränderung herbeizuführen. Ich könne den Leuten nicht ständig den Kopf abreißen und dann einfach wieder aufsetzen, erklärte sie mir. Wie recht sie hatte. Wie sehr mich dieser Satz prägte. Ihr eigener Kopf saß derweil schon ganz schön schief. Im Affekt nannte sie mich mal den personifizierten Teufel und während ich zeternd ihre Eltern-Kompetenz anzweifelte, dem eigenen Kind Derartiges an den Kopf zu werfen, kam etwas in mir nicht umhin, sich exakt darin wiederzufinden. Ich wurde älter, meine Mama starb frei von jedwedem Groll auf mich, doch Scham und Schuld sollten mich noch lange begleiten. 

Mein Freund, die Kurzgeschichte

In der Schule war ich zunächst verträumt, redselig, lustig. Mit menschlichen Beziehungsdynamiken hatte ich es schon damals nicht. Freund*innen gab es zuhauf, ich empfand sie allerdings eher als Beiwerk meiner Interessen – Fußball, Inlinehockey, Dosenkicken, Panini-Album – ich teilte keine Geheimnisse, sondern betrieb Aktivitäten mit ihnen. Meine Gedanken packte ich stattdessen in Kurzgeschichten. Ich begann damit bereits in der ersten Klasse, also just als alle relevanten Buchstaben in meinem Kopf zur Verfügung standen. 

Enge Bindungen waren nicht mein Ding, dafür funktionierte ich erstaunlich gut in Gruppen und erkannte, dass Nerds in der Schulflur-Hackordnung sehr weit unten zu verorten sind. Vom zunächst schüchtern-unsicheren Thomas-Gottschalk-im-Katzenpullover-Verschnitt mit Nickelbrille und Dauerwelle, entwickelte ich mich in kürzester Zeit zum vorlauten Autoritätenschreck mit immer lustigem Spruch auf den Lippen – zum Leidwesen meiner Lehrer. Gleichaltrige umgaben sich dagegen schon damals gern mit mir. Ich auch mit ihnen. Manchmal. Zum Hockey und Kartenspielen. Dass es damals noch keine Handys gab, über die man ständig in Kontakt hätte bleiben müssen, kam mir äußerst gelegen. 

Die Taugenixe – und wie nie etwas aus mir wurde

Ich schrieb zwar relativ gute Noten, aber wohl nur, weil in Grund- und Hauptschule nun wirklich keine Raketenwissenschaften gepredigt werden. Hinzu kam, dass ich zu allem, was mich interessierte, eine Meinung vertrat, die ich auch kundtat. Ergänzend genügte einmal Durchlesen und die relevanten Infos schrieben sich zumindest übergangsweise in mein Hirn. Heimat- und Sachkunde, Geschichte und Religion machten sich also schonmal von selbst. Gut für sie, denn nicht umsonst galt ich im weiteren Verwandten- und Bekanntenkreis mehr oder weniger insgeheim als stinkendfaule Taugenixe, aus der wohl “nie etwas wird”. Spoiler: Sie irrten. Zumindest mit Letzterem. 

Als ich 17 war, kamen Mama und Oma ins Pflegeheim. Erstere starb ein Jahr darauf. Ich musste in eine WG ziehen, hatte alles verloren, ein bedenkliches Verhältnis zu Alkohol und Marihuana aufgebaut und traf doch eine Entscheidung: Diese kaufmännische Ausbildung ziehe ich nicht nur durch, ich werde hart erfolgreich werden. Mittlerweile bin ich Führungskraft und verdiene – wenn ich nicht gerade krankgeschrieben bin – ein sechsstelliges Jahreseinkommen. 

Geht doch auch ohne, wa?

Diagnostiziert wurde ich erst letztes Jahr im Sommer. Wenn ich das ohne Medis geschafft habe, kann ich die ja nicht wirklich brauchen? Nun, mittlerweile weiß ich, wie sehr ich in 20 Jahren über alle Grenzen hinausgegangen bin. Ich wollte unbedingt, dass man auf das Kind meiner Mutter aufschaut. Dafür war ich bereit jeden Preis zu zahlen und riss mir – mit Verlaub – den Arsch auf, arbeitete 80 Stunden in der Wochen und kämpfte konstant gegen: 

  • Unbändige innere Unruhe
  • permanentes Stress-, Angst-, Unsicherheitsgefühl
  • Gestandene Depressionen
  • Krasse Stimmungswechsel von hyper-begeistert zu zutode-betrübt
  • Heftige Konzentrationsschwierigkeiten und permanenter Drang den diversen, sich aufdrängenden Gedanken zu folgen
  • Blockaden und Paralysezustände, nicht fähig sein, etwas zu tun, das erforderlich wäre
  • Labeling als “faul”, “böse”, „Hochstapler“ 
  • Innere Zerrissenheit, Sorge “aufzufliegen” und “erwischt zu werden”
  • Überspielende Arroganz, ergo enorme Kluft zwischen Schein und Sein
  • Maximale Kritikunfähigkeit
  • Gerechtigkeitssinn und Aversion gegen unfähige Autoritäten
  • Impulsivität, Wut und verbale Inkontinenz
  • Mündend in geringem Selbstwert und Impostorgedanken
  • Probleme mit der Bewerkstelligung einfachster Aspekte des Erwachsenseins z. B. regelmäßig Fahrkarten besorgen, Rechnungen begleichen, Wäsche waschen … 
  • uvm. 

Warum mich all das dann doch nicht vernichtet hat

Indem ich mich eben nicht fügte und über lange Zeit große Verfechterin der Selbstmedikation via Substanzmissbrauch war, schätze ich. Wenn ich spät nach Hause kam, läutete ich den Feierabend nicht selten mit Binge Eating, Whisky und/ oder Dope ein, stellte mich ruhig und formatierte mir regelmäßig die Festplatte – metaphorisch. Tagsüber aufstrebender Workaholic, abends Filmriss. Ein Konzept, das zweifelsohne nicht für die Ewigkeit bestimmt war und irgendwann in Selbstoptimierung und Sport überging, Schon besser. Doch was ich auch tat, es war immer der Kanister zu viel, zu extrem, zu exzessiv, um gesund zu sein. Maximaleinsatz für phasenweise Linderung. 

Turns Off: Als ich das erste Ritalin nahm, hätte ich heulen können. Zum ersten Mal durfte ich spüren, wie sich so ein menschliches Gehirn im Regelfall verhält und liebte alles daran. In maximaler Glückseligkeit bearbeite ich eine Excel-Tabelle und das Leben war schön. Die Grundproblematik ist nicht gänzlich weg, aber leiser – so leise, dass ich in meinem Tun und Wirken mittlerweile sogar etwas mit dem wertvollen Gut des Maßhaltens anfangen kann. So leise, dass ich mich neben den ständig parallel laufenden Radiosendern endlich auch selbst hören kann.

Gibt es doch gar nicht!

Für Verfechter der “ADHS ist voll Modeerscheinung”-Theorie ist das sicher alles kein Beweis. Ich könnte ja drölf andere psychische Beeinträchtigungen mitbringen und wirklich der personifizierte Teufel sein. Wenn wir aber mal davon ausgehen, dass dem nicht so ist, erscheint mir die ADHS-Autismus-Sache schon ziemlich schlüssig.

Warum der Text übrigens ein bisschen zu meiner Lebensgeschichte mutiert ist, liegt irgendwie in eben dieser Natur der Sache, vor allem aber auch darin begründet, dass sich dieses ADHS nicht gänzlich heraustrennen lässt. Neurodivergenz ist ein anderer Webrahmen, auf dem die eigene Persönlichkeit gründet. Er ist folglich als Normabweichung klar zu bestimmen und zieht sich doch durch alle Facetten des jeweiligen Selbst. So, wie es nicht den/die eine* Neurotyp*in gibt, hat ADHS eben viele Gesichter und das, verehrte Leserschaft – waren einige von mir. 

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